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Korsikas Unabhängigkeitsbewegung

Immer wieder liest man in Zeitungen Nachrichten aus Korsika: „Bombenanschlag auf Korsika“, „Hilfsplan soll Korsen beschwichtigen“, „Korsen bieten Frieden an“, „Waffenruhe beendet“, Präfekt auf Korsika ermordet“… Solche Meldungen stossen bei den meisten auf Verständnislosigkeit und verunsichern viele Korsika-Reisende. Nur wenige kennen auch die Hintergründe hierfür.

 

Im Laufe der Geschichte wurde Korsika immer wieder von fremden Völkern erobert. Den Anfang machten 1800 v. Chr. die Torreaner, gefolgt von Griechen, Römern, Pisanern, Genuesen und Franzosen, um nur einige zu nennen. Diese Invasoren beuteten die Insel aus und verfolgten lediglich ihre eigenen Interessen. ’Asterix auf Korsika’ ist hierfür ein exzellentes Beispiel. Die Korsen wurden unterdrückt und ausgenutzt, wodurch der Ruf nach Souveränität lauter wurde und immer mehr Widerstand aufkeimte. Dieser fand im Unabhängigkeitskrieg von 1729 bis 1769 einen ersten Höhepunkt. Trotz aller Tapferkeit unterlagen die Korsen unter Pasquale Paoli am 8. Mai 1769 den zahlmässig überlegenen Franzosen. Korsika wurde ein französisches Département. Da Frankreich aber ein zentralistischer Staat ist, werden alle Entscheidungen Korsika betreffend weitab der Insel, in Paris gefällt. Von dieser Regierung fühlen sich die Korsen unverstanden. Ihre Probleme werden ignoriert. Korsika ist Frankreichs ärmste Region. Die Einheimischen werden vernachlässigt.

1962 liessen sich 16’000 Pieds Noirs, Algerierfranzosen, auf Korsika nieder. Sie erhielten Geld und Land von der 1957 gegründeten SOMIVAC (Gesellschaft für die agrikulturelle Entwicklung Korsikas). Die Korsen selbst bekamen solche Startkapitale nie. Dies führte dazu, dass die Pieds Noirs äusserst kühl behandelt wurden. Sie machten grosse Macchia-Gebiete an der Ostküste fruchtbar und waren mit ihrer modernen Landwirtschaft sehr erfolgreich. Im Gegensatz zu den Korsen, die jeder für sich ein Stück Land bewirtschaftete, bauten sie grossflächig an und nutzten auch moderne Geräte, die sie mit Hilfe der SOMIVAC-Gelder finanzierten. Die Korsen fühlten sich zu Recht von Paris betrogen.

 

1967 gründete Edmond Simeoni zusammen mit seinem Bruder Max die ARC (Action pour la Renaissance de la Corse = Aktion für die Wiedergeburt Korsikas). Ein Jahr später entstand auch die FRC (Front Régionaliste Corse). Beide Parteien forderten von Paris, über die politische, ökologische und ökonomische Zukunft selbst zu bestimmen. Solange sie aber friedlich waren, bleiben sie ungehört; ihr Anliegen wurde ignoriert.

 

Am 21. August 1975 kam es dann zum “Fall Depeille“, dem “Drama von Aléria“. Edmond  Simeoni und einige Gleichgesinnte besetzten  mit Gewehren bewaffnet das Gut des in Wein- und Finanzskandale verwickelten Winzers Henri Depeille. Sofort waren 1200 schwerbewaffnete Polizisten zur Stelle. Beim Schusswechsel wurden 2 Polizisten getötet und 2 ARC-Mitglieder verletzt. Edmond Simeoni wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und die ARC verboten. Daraus entstand die UPC (Unione di u Populu Corsu), eine legale Partei, die heute noch, allerdings in gemässigter Form, existiert.

Seither ist der Nationalismus auf Korsika nicht mehr zu ignorieren. Heute haben nicht einmal mehr die Korsen den Überblick über Grösse, Namen und Ziele der einzelnen Organisationen. Hier ist anzumerken, dass der korsische Nationalismus nichts zu tun hat mit dem Nationalismus in Deutschland vor 60 Jahren. Würde man es in einer mathematischen Gleichung aufzeigen, sähe diese folgendermassen aus:

 

Korsischer Nationalismus = Sozialismus + Ökologie

 

Die Autonomisten verfolgen verschiedene Ziele:

  • Sie setzen sich für den Schutz ihrer Heimat ein und möchten eine Balearisierung, eine Zubetonierung der korsischen Küste, verhindern.
  • Sie fordern von Paris mehr Autonomie und möchten Probleme, die nur Korsika betreffen, selbst lösen.
  • Sie möchten ihre eigenständige Kultur bewahren und diese auch in das Erziehungssystem einbetten.

Um ihren Wünschen Ausdruck zu verleihen, legten sie immer wieder Sprengsätze. Diese Plastiquages richteten sich in erster Linie gegen SOMIVAC-Projekte der Pieds Noirs und zunehmend auch auf touristische Anlagen von Festlandfranzosen. Für die meisten Anschläge war die FLNC (Fronte de Libération Nationale de la Corse = nationale Befreiungsfront Korsikas) verantwortlich. Die Zahl der Anschläge nahm immer mehr zu. Waren es 1974 noch deren 40, stiegen sie 1976 auf 400 und 1982 auf beängstigende 800! 1983, nach 146 Attentaten allein gegen touristische Einrichtungen von Festlandfranzosen, wurde die FLNC verboten. Finanziert wurden die Anschläge mit der sogenannten Revolutionssteuer, eine Art Schutzgelderpressung wie es die Mafia kennt.

 

Die Attentate hatten sich für die Insel aber gelohnt. 1982 erlaubte Paris die Gründung eines Regionalparlamentes (Ajaccio), dem ersten in Frankreich. Es konnte die Fäden in der Tourismuspolitik, der Landwirtschaft und den Bewässerungsprojekten selbst in die Hand nehmen. In den Wahlen von 1984 bekam die PRP (gaullistische Partei) 30 der 61 Sitze.

 

1990 verabschiedete das französische Parlament den ’Plan Joxe’. Drei der vier korsischen Abgesannten stimmten aber dagegen, der Vierte enthielt sich der Stimme. Ihnen sei der Plan nicht genug. In Wirklichkeit aber fürchteten sie lediglich, ihre Clan-Privilegien zu verlieren. Auf Korsika ist der Clanismus heute noch weit verbreitet und verhindert so eine wirtschaftliche und politische Weiterentwicklung. Ämter, wie zum Beispiel jenes des Bürgermeisters scheint über Generationen weitervererbbar zu sein. Stimme gegen Job ist kein seltener Fall. Am folgenden Beispiel wird das Clansystem deutlich gemacht: Einheimische sagen, der Süden Korsikas gehöre Jean-Paul de Rocca-Serra (Gaullist und Präsident des Regionalparlaments) und der Norden gehöre François Giaccobi (Linksliberaler). Nach dem Tod der beiden (Giaccobi 1997; Rocca-Serra 1998) hat sich aber nicht viel geändert: “Die Vornamen lauten jetzt anders…“ Der Kampf gegen dieses Clanwesen ist ein wichtiges Anliegen der FLNC.

 

1991 wurde im französischen Parlament die ’Existenz des Korsischen Volkes als Teil des französischen Volkes’ mit 297 gegen 275 Stimmen angenommen. Die unterlegenen Neogaullisten appellierten aber an den Verfassungsrat, welcher daraufhin bekannt gab, dass die französische Verfassung keinerlei Unterschiede bezüglich Herkunft, Rasse und Religion mache. Die Antwort der Korsen folgte umgehend. Bei den Wahlen ins Regionalparlament erhielten die Autonomisten 20% der Stimmen.

 

Die Autonomisten und Nationalisten stossen bei den Korsen auf Sympathien, solange sie illegal errichtete Hotels sprengen, in der Macchia schwerbewaffnet und vermummt Pressekonferenzen geben und für mehr Autonomie kämpfen. Einer Umfrage nach sind 24% (nach anderer Quelle nur 4%) aller Korsen für die Unabhängigkeit, 61% für das Verbleiben bei Frankreich und 15% haben keine Meinung. So werden legale Kandidaten auch ins Regionalparlament gewählt. Jede autonomistische Partei hat im Untergrund illegale bewaffnete Organisationen, welche Einfluss in die Politik nehmen.

 

1992 wählten die Korsen Dr. Edmond Simeoni als Spitzenkandidat von Corsica Nazione in die Regionalversammlung. Seine Anliegen waren unter anderem mehr Selbstbestimmung, eine Demokratisierung, kulturelle ’Entkolonialisierung’, besserer Schutz des Lebensraumes und Inselzulagen. Zwei Jahre später aber trat Simeoni von allen politischen Ämtern zurück und erklärte ’Corsica Nazione’ als gescheitert. Die Akzeptanz des kriminellen Untergrundes und die Duldung des Clan-Unwesens hindert Korsika an einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Entwicklung könne nur aus der demokratischen Beteiligung aller Inselbewohner, ausdrücklich auch unter Einbeziehung der Zugewanderten, an den politischen Entscheidungen erwachsen. Es soll nicht eine Minderheit über eine Mehrheit bestimmen. Heute wünschen nur etwa 4% der Korsen eine vollständige Loslösung von Frankreich.

 

Anfangs 1996, nach einer weiteren Welle der Gewalt, trafen sich Vertreter der Regierung aus Paris heimlich mit den Terroristen und offiziell mit der Regionalversammlung, um über das korsische Problem zu verhandeln. Im Sommer desselben Jahres kam sogar Premierminister Juppé persönlich auf die Insel. Es wurde beschlossen, Korsika für 5 Jahre den Status einer Art Freihandelszone zuzubilligen. 1997 kündete die FLNC einen Waffenstillstand an, löste diesen aber im Januar 1998 wieder auf.

 

Am 6. Februar 1998 kam es zum tragischsten Ereignis in der Französisch-Korsischen Krise: Präfekt Claude Erignac, höchster Vertreter der französischen Regierung auf Korsika, wurde in Ajaccio auf offener Strasse erschossen.

 

Dieser Mord an einem ranghohen Politiker machte Schlagzeilen. Wenige Tage nach der Tat gingen in Ajaccio 40’000 Leute auf die Strasse und protestierten gegen die Mordanschläge der Nationalisten. Diese verloren dann auch in den nächsten Regionalwahlen fast die Hälfte ihrer Sitze im Parlament.

 

Am 20. April 1999 zündete die korsische Gendarmerie das illegal errichtete Strandlokal „Chez Francis“ an. Darauf wurde Bernard Bonnet, Präfekt Korsikas und Nachfolgers Claude Erignacs, inhaftiert und durch Jean-Pierre Lacroix ersetzt. Bernard Bonnet wurde 2002 zu einem Jahr Haft verurteilt.

 

Der mutmassliche Mörder des Präfekten Erignac, Yvan Colonna, wurde in einer Bergerie nahe Olmeto verhaftet.

 

Am 6. Juli 2003 entschieden sich die Korsen mit einer knappen Mehrheit gegen eine Zusammenlegung der beiden Inseldepartemente.

 

In den Regionalwahlen 2004 errangen die Nationalisten unter dem Dach von Unione Naziunale 8 der 51 Sitze im Parlament in Ajaccio.

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